Meine Praxis befindet sich in der Lüdemannstraße 33 im Kieler Stadtteil Südfriedhof, der von Jugendstilhäusern und Backsteinfassaden aus der Gründerzeit geprägt ist und ab 1870 planmäßig errichtet wurde. Neben dem schönen, parkähnlichen Friedhofsgelände (13 ha, 1869 angelegt) mit seinem alten Baumbestand, den eindrucksvollen Grabkapellen und Mausoleen bekannter Kieler Bürger (u. a. Howaldt, Sartori, Groth) fielen mir die Straßennamen in der Nähe der Praxis auf, die allesamt auf berühmte Kirchenmänner hindeuten: Die Lutherstraße (nach Martin Luther, Theologe und Reformator, 1483-1546), die Melanchtonstraße (nach Philipp Melanchton, eigentl. Philipp Schwartzerdt, Freund Martin Luthers, Philologe und Theologe, 1497-1560) und die Calvinstraße (nach Johannes Calvin, eigentl. Jean Cauvin, aus Frankreich stammender Theologe und Reformator, 1509-1564). Der Namensgeber der Bugenhagenstraße, war auch ein Kirchenmann: Johannes Bugenhagen (der Ältere, auch genannt Doctor Pomeranus, 1485-1558), ebenfalls ein Weggefährte Martin Luthers und bedeutender deutscher Reformator. Aber wer war wohl dieser Lüdemann, nach dem die Straße, in der meine Praxis liegt, benannt wurde?
Auf dem Orientierungsplan des Südfriedhofs hatte ich den Namen Lüdemann entdeckt, jedoch das zugehörige Grab nicht gefunden. Ich versuchte mein Glück im Internet. Google half mir bei der Suche und nachdem ich mich ein wenig durchs Netz geklickt hatte, hatte ich den Namensgeber der Straße, in der meine Praxis liegt, gefunden: Prof. Dr. Carl Peter Matthias Lüdemann wurde am 6. Juli 1805 als Sohn des damaligen Conrectors der Gelehrtenschule Lorenz Lüdemann in Kiel geboren. Er besuchte selbst die Gelehrtenschule und studierte anschließend Philosophie und Theologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er war als Prediger an der Heilig-Geist-Kirche (Klosterkirche) und der Garnisonskirche (Pauluskirche) tätig. Er promovierte in Philosophie und Theologie und wirkte als ordentlicher Professor für Theologie und als Direktor des homiletischen (Predigtlehre) und katechetischen Seminars an der Universität Kiel. Von 1853 bis 1855 und von 1868 bis 1869 war Carl P. M. Lüdemann Rektor der CAU. 1854 wurde er Kirchenrat. Lüdemann muss ein arbeitsamer Mann gewesen sein. Noch heute finden sich bei Worldcat.org, einer Meta-Suchmaschine über die Bestände von Bibliotheken, Museen und Archiven, 25 Veröffentlichungen, Predigten und Bücher Lüdemanns. Sogar im eingescannten Original nachzulesen ist sein Buch „Die Verleugnung Gottes des Vaters. Ein theologisches Bedenken.“ von 1861 [hier lesen].
Ich wollte nun gerne wissen, wie Lüdemann der Ältere ausgesehen hatte und ob er mir wohl sympathisch gewesen wäre. Hier führte das Internet nicht weiter. Ich wandte mich also an die Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek hier in Kiel, wo mir freundlicherweise die beiden Bilder in diesem Artikel zur Verfügung gestellt wurden. Pastor Lüdemann wirkt ein wenig streng auf mich, aber das kann auch am Stillhalten für das Foto gelegen haben, oder?
Doch meine Internetrecherchen förderten noch mehr zutage. In der Veröffentlichung „Zur Geschichte der Universität Kiel und des Instituts für Anorganische Chemie“ von Klaus Beneke [hier lesen] stellt der Autor fest, dass in Kiel 82 Straßen, Plätze und Wege nach Hochschullehrern der hiesigen Universität benannt sind. Laut Beneke könnte die Lutherstraße auch nach Karl Friedrich Luther (1663-1744) benannt worden sein, der seit 1726 Professor für Medizin und Naturpilosophie an der CAU war. (Ich teile diese Meinung nicht, da mir Martin Luther als Namensgeber aufgrund der Friedhofsnähe der Lutherstraße und der anderen Reformatoren unter den angrenzenden Straßennamen im Quartier wahrscheinlicher erscheint.) Für die Lüdemannstraße führt Beneke noch einen weiteren möglichen Namenspatron an und so erfahre ich, dass Lüdemann einen Sohn namens Hermann Carl Lüdemann hatte (15.09.1842-12.10.1933). Dieser war ebenfalls Theologe und von 1878 an Professor für neutestamentliche Exegenese an der CAU. Auch von ihm findet sich eine wissenschaftliche Arbeit im Netz, vermutlich seine Habilitationsschrift (1872): „Die Anthropologie des Apostels Paulus“ [hier lesen]. Er widmet sie seinem berühmten Vater, welcher als angesehener, geschätzter Theologe und Prediger „Ritter des rothen Adlerordens III. Klasse“ und Träger des „Danebrogordens“ gewesen sei.
Ein zweites Mal machte ich mich auf die Suche nach Lüdemanns Grab auf dem Südfriedhof. Wieder konnte ich es nicht finden. Mir kam die Idee im Friedhofsamt anzurufen. Eine sehr freundliche Dame versprach, die genaue Lage herauszusuchen. Kurz darauf rief sie mich zurück und ich wusste nun, wo ich suchen musste. Das vollkommen überwucherte Grab im Feld A/20, gegenüber einer mächtigen Buche, trug drei Grabsteine. Das Steinkreuz des mittleren lehnte abgebrochen an seinem Sockel. Darauf konnte man die Inschrift erkennen: „Ruhestätte der Familie Lüdemann“. Hier fand Carl P. M. Lüdemann, der am 17. Februar 1889 gestorben ist, seine letzte Ruhestätte. Rechts und links seines Grabmals befinden sich zwei schlichte, schwarze Grabsteine mit den Namen und Lebensdaten seiner Töchter Bertha (21.8.1840- 11.1.1914) und Clara Lüdemann (3.8.1844-30.4.1928).
Seit meinen ersten Recherchen sind inzwischen viele Jahre vergangen und ich bin regelmäßiger Besucher des Friedhofs und Parks geworden. Manchmal besuche ich den Südfriedhof auch mit Klienten, besonders wenn das Thema Tod und Sterben, Trauer oder Angst in der Therapie eine Rolle spielt. Dabei beobachte ich die Veränderungen, die die Jahreszeiten mit sich bringen, aber auch Um- und Neugestaltungen durch die Friedhofsgärtnerinnen und -gärtner. Erst kürzlich fiel mir auf, ich war lange nicht bei Lüdemanns zu Besuch gewesen, dass das Grab vollständig vom Kirschlorbeer befreit und neu bepflanzt worden ist. Das abgebrochene Kreuz und die Platte mit der Inschrift zu Lüdemann selbst fehlten. Ich fand heraus, dass das Kreuz sicher verwahrt wurde. Die Restaurierung der Grabstätte ist Gegenstand laufender Planungen. Ich kann nur hoffen, dass der Pastor und Professor Carl Peter Matthias Lüdemann als bedeutender Kieler Bürger weiter in Ehren gehalten wird.
Ich freue mich, inzwischen zu wissen, wer der Namensgeber der Straße ist, in der ich arbeite. Irgendwie habe ich das Gefühl, ihm ein wenig näher gekommen zu sein. Ist es nicht auch schön zu sehen, wie wir mit Aufmerksamkeit und Neugier unserer alltäglichen Umgebung so viel Interessantes entlocken können?