In Hamburg bin ich das erste Mal über sie gestolpert, die „Stolpersteine“ des aus Berlin stammenden und in Köln lebenden Künstlers Gunter Demnig (Jg. 1947): Quadratische Pflastersteine, die auf der Oberseite eine Messingplatte tragen, in die die Namen, Lebens- und Todesdaten ermordeter Opfer der deutschen Nazi-Diktatur eingraviert sind. Demnig verlegt die Steine persönlich am „letzten selbst gewählten Wohnort“ von Menschen, die während der NS-Zeit inhaftiert, deportiert und umgebracht wurden. Mich hat es tief bewegt, in einem noblen Hamburger Viertel vor wunderschönen Gründerzeit- und Jugendstilvillen dutzende dieser Stolpersteine zwischen den Gehwegplatten zu finden. Allzu leicht könnte man in einer solchen Gegend vergessen, dass an der „guten alten Zeit“ für diese ehemaligen Bewohner gar nichts gut war.
An vielen Orten in Deutschland und Europa sind inzwischen die Erinnerungssteine in den Gehwegen zu finden. Besonders schockieren mich dabei immer die Lebensdaten auf den Messingplatten: Nicht nur Männer und Frauen jeden Alters, sondern auch Kinder, Säuglinge, Kleinkinder und Jugendliche, die hier lebten, zur Schule gingen, in den Vorgärten und auf den Straßen spielten, wurden erbarmungslos verschleppt, gequält und getötet.
Am 20. Mai 2010 fand neben anderen Orten auch im Kieler Stadtteil Südfriedhof eine Verlegeaktion mit Gunter Demnig statt. Schülerinnen lasen die Lebensgeschichte der Opfer vor, an die erinnert werden sollte. Nachbarn und Passanten hatten sich eingefunden. In der Ringstraße 36 hatte die Familie Sandbank gelebt. Der Vater Wolf Sandbank (Jg. 1893) betrieb mit seiner Frau Amalie (Jg. 1900) eine Textilhandlung mit Reinigung. Eine ehemalige Nachbarin erzählte, dass sie die Tochter Fanny (Jg. 1930) gekannt habe. Sie zeigte sogar ein Klassenfoto, auf dem man Fanny, ein Mädchen mit dunklen Zöpfen zwischen ihren Klassenkameradinnen sehen konnte. Eines Tages habe es geheißen, Fanny gehe nun auf eine andere Schule, berichtete die alte Frau. Die sechsköpfige Familie war abgeholt und in ein Sammellager nach Leipzig gebracht worden. Die jüngste Tochter der Sandbanks, Betty (Jg. 1933), war gerade 9 Jahre alt, als die Familie nach Auschwitz deportiert wurde. Keiner aus der Familie überlebte. Heute befindet sich dort das Ringzentrum, eine Praxisgemeinschaft für Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie.
Am 26. Mai 2023 verlegte Gunter Demnig in Nürnberg den 100.000. Stolperstein. Stolpersteine hat er inzwischen in 27 europäischen Ländern verlegt. Er will mit dieser Aktion den in den Konzentrationslagern zu Nummern degradierten Menschen ihre Namen zurückgeben. Das Bücken, um die Inschriften der Steine zu lesen, sieht Demnig als Verbeugung vor den Opfern. Gunter Demnig wurde, neben zahlreichen anderen Auszeichnungen und Preisen, 2005 das Bundesverdienstkreuz verliehen. Die Stolpersteine sind das größte dezentrale Kunstwerk der Welt und Demnigs Lebenswerk.
Auf seiner Webseite stolpersteine.eu veröffentlicht der Künstler nicht nur die bereits erfolgten, sondern auch die geplanten Stolpersteinverlegungen. Das Projekt ist durch Spenden finanziert. Lokale Unterstützer können sich für die Verlegung weiterer Steine in ihrer Gemeinde engagieren. Sogar eine Pflegeanleitung für die Messingplatten ist auf der informativen Homepage zu finden.