Die Entwicklung der wissenschaftlichen Verhaltenstherapie nahm Ihren Anfang zu Beginn des 20. Jahrhunderts und verlief aus heutiger Sicht in mehreren Phasen. Diese Phasen waren dabei jeweils durch einen innovativen Impuls gekennzeichnet, der – wie bei einer Welle – zu einer Neuausrichtung der gesamten Entwicklungs- und Forschungstätigkeit führte.
1. Welle: Behaviorismus
Verhaltenstherapie ist eine Psychotherapieform, die sich aus der Lernpsychologie entwickelt hat. Ihre Grundlagen bildeten unter anderem die eher zufällige Entdeckung der Klassischen Konditionierung (Reflexlernen) bei Hunden durch den russischen Physiologen und Nobelpreisträger Ivan Petrowitsch PAVLOV (1849-1936) und Forschungen des US-amerikanischen Psychologen Burrhus Frederic SKINNER (1904-1990) zur Instrumentellen Konditionierung (Belohnungslernen) bei Tauben und Ratten.
Als Begründer des Behaviorismus (Reiz-Reaktions-Psychologie) gilt der ebenfalls aus den USA stammende Psychologe John Broadus WATSON (1878-1958). Der Behaviorismus geht davon aus, dass das Verhalten von Menschen und Tieren mit naturwissenschaftlichen Methoden erforscht und erklärt werden kann. Zunächst wurden dabei innere Prozesse (Körperreaktionen, Gedanken, Emotionen) vernachlässigt, der Körper und das Gehirn als „black box“ (schwarze Kiste) betrachtet, die in immer gleicher Weise reagiert. Die Behavioristen betrachteten nur die beobachtbare Interaktion des Organismus mit seiner Umwelt. SKINNER erweiterte diese auf Reiz-Reaktions-Ketten beschränkte Sichtweise und belegte, dass Verhalten spontan auftreten und durch seine Konsequenzen geformt werden kann.
Aus dem Behaviorismus entwickelte sich die klassische Verhaltenstherapie, die die gewonnenen Erkenntnisse und Theorien einsetzte, um psychische Erkrankungen zu heilen. Ein prominenter Vertreter war der südafrikanisch-amerikanische Psychiater und Psychotherapeut Joseph WOLPE (1915-1997), der das Verfahren der Systematischen Desensibilisierung zur Behandlung von Angststörungen entwickelte.
2. Welle: Kognitive Wende
Anfang der 1970er Jahre führten zahlreiche Forschungsarbeiten über die Bedeutung von Kognitionen (Gedanken, Erwartungen oder Einstellungen) für das menschliche Verhalten zur sogenannten „Kognitiven Wende“ in der Verhaltens-Psychologie: Der Behaviorismus wurde vom Kognitivismus abgelöst. Besonders bedeutsam waren in diesem Zusammenhang die Forschungen des amerikanischen Psychologen und Psychotherapeuten Albert ELLIS (1913-2007) und seine ABC-Theorie, die gedanklichen Bewertungen eine entscheidende Rolle bei der Modulation von Verhalten und Erleben zumisst. Ein weiterer Pionier dieser Zeit war der kanadische Psychologe Albert BANDURA (1925-2021), der die sozial-kognitive Lerntheorie durch Untersuchungen an Kindern entwickelte (Lernen am Modell).
Die zunächst behavioristisch orientierte Verhaltenstherapie entwickelte sich durch diese Impulse weiter zur Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT, engl. CBT). Zu ihren Wegbereitern zählen der amerikanische Psychiater und Psychotherapeut Aaron Temkin BECK (1921-2021), der vor allem die Bedeutung und Veränderung negativer Gedanken und kognitiver Schemata bei Depressionen erforscht hat. Maßgeblichen Einfluss hatten auch der amerikanische Psychotherapeut Donald MEICHENBAUM (*1940) mit seinen Arbeiten zum „inneren Sprechen“ und dem daraus abgeleiteten Selbstinstruktionstraining und der österreichisch-amerikanische Psychologe Frederick H. KANFER (1925-2002), der die Verhaltensanalyse (SORKC-Schema) und die Selbstmanagement-Therapie entwickelte.
3. Welle: Achtsamkeit, Emotionen und Akzeptanz
Bereits in den späten 1970er Jahren, vor allem aber in den beiden letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts, entwickelten Psychologen und Psychotherapeuten in den USA, Kanada und Großbritannien neue therapeutische Ansätze, die zunehmend die Wahrnehmung und Regulation von Gefühlen in den Blick nahmen. Dabei integrierte zunächst Jon KABAT-ZINN (*1944) aus dem Buddhismus (Zen bzw. Vipassana) entlehnte Kernaussagen und meditative Techniken in sein Programm zur achtsamkeits-basierten Stressreduktion (MBSR). Achtsamkeit (mindfulness) meint dabei die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt (statt auf Vergangenes oder Zukünftiges) und damit die bewusste, annehmende Wahrnehmung des eigenen Erlebens nach dem Motto: „Alles, was gerade ist, darf sein.“ Das Erleben wird nicht sofort bewertet mit dem Ziel, es zu kontrollieren, zu verändern oder zu beseitigen, sondern es wird angenommen als das, was es ist: ein Gefühl, ein Gedanke oder eine Körperreaktion. Unter dem Einfluss weiterer Forscher und Autoren (John D. TEASDALE, *1950; Zindel V. SEGAL, *1956; J. Mark G. WILLIAMS, *1952) entstand die Mindfulness Based Cognitive Therapy (MBCT), die zunächst vor allem zur Rückfallprävention bei Depressionen eingesetzt wurde. Auch negative Emotionen sollen dabei nicht unterdrückt oder vermieden werden (z. B. durch Rückzug, Passivität, Ablenkung, Procrastination oder Dissoziation), sondern achtsam wahrgenommen, benannt, beobachtet und im Verlauf reguliert werden.
Aus der Beschäftigung mit Borderline-Patientinnen, die phasenweise unter Zuständen höchster Anspannung und Emotionalität leiden, entwickelte die amerikanische Psychologin Marsha M. LINEHAN (*1943) die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT). Darin werden einerseits Fertigkeiten vermittelt, um eine Beobachterposition gegenüber der eigenen Emotionalität einzunehmen, anstatt vollkommen überflutet zu werden, und um diese dann gezielt herunter zu regulieren (sog. „Skills Training“). Andererseits wird Akzeptanz eingeübt als bewertungsfreies Annehmen der Gegenwart, um schwierige und belastende Lebenssituationen zu durchstehen („radikale Akzeptanz“). Das menschliche Leiden wird als universelles menschliches Problem anerkannt.
Diese Form der Akzeptanz wurde auch zum zentralen Element der Acceptance and Commitment Therapy (ACT), die vor allem durch den amerikanischen Psychologen Steven C. HAYES begründet wurde. Neben der Emotionsregulation wird darin vor allem auf die Bedeutung der jeweiligen Emotion fokussiert, also darauf, die dahinterliegenden Bedürfnisse zu erkennen (z. B. Emotion: Angst > Bedürfnis: Sicherheit). Neben dem wertungsfreien Wahrnehmen und Annehmen der Emotionen und Bedürfnisse spielen bei ACT Interventionen zur Werteklärung und daraus resultierendes, entschlossenes Handeln eine wichtige Rolle (engl. commitment).
In Deutschland wurden die genannten Strömungen der dritten Welle in Forschung und Behandlung aufgegriffen und sind heute ein integraler Bestandteil der hierzulande praktizierten Verhaltenstherapie geworden. So hat beispielsweise Matthias BERKING (*1971) das deutschsprachige Training emotionaler Kompetenzen (TEK) entwickelt und wissenschaftlich evaluiert.
Eine Sonderstellung innerhalb der Verfahren und Techniken der dritten Welle nimmt die Schematherapie des amerikanischen Psychologen und Psychotherapeuten Jeffrey E. YOUNG (*1950) ein, da sie kognitiv-verhaltenstherapeutische Elemente mit psychodynamischen und weiteren psychotherapeutischen Verfahren und Theorien (z. B. Transaktionsanalyse, Hypnotherapie, Gestalttheorie) kombiniert. Schemata werden dabei als Muster aus Erinnerungen, Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen verstanden, die im Verlauf der Kindheit und des späteren Lebens erlernt und verfestigt werden und die das Verhalten des Individuums insbesondere in der Beziehung zu anderen steuern. Handelt es sich um schädigende Erfahrungen, können diese Muster hochgradig dysfunktional sein und schwere psychische Störungen begründen.
4. To be continued…
Aktuell (2023) wird diskutiert, ob von einer vierte Welle der Verhaltenstherapie gesprochen werden könne, weil zunehmend körperorientierte Verfahren Anwendung finden, die psychophysiologische (veraltet: psychosomatische) Zusammenhänge erlebbar und Gefühle greifbarer machen sollen. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Sichtweise durchsetzen wird.
Die genannten Wellen sind jeweils als Weiterentwicklung, als Kurskorrektur zu verstehen, nicht als Kehrtwende oder wissenschaftliche Revolution. Die Verhaltenstherapie bleibt in ihren Kernaussagen und Prinzipien bestehen. Dazu zählen vor allem die wissenschaftliche Fundierung und empirische Überprüfung sowohl der entwickelten Verfahrensweisen als auch der dahinterstehenden theoretischen Annahmen. So ist eine hohe Ergebnisqualität ebenso gewährleistet wie die Offenheit für Innovationen und wissenschaftlichen Fortschritt.
Konsequenterweise muss daher am Ende dieser Übersicht auch darauf hingewiesen werden, dass sich die neuen Ansätze der dritten Welle in aktuellen Therapievergleichsstudien als der klassischen kognitiven Verhaltenstherapie kaum überlegen gezeigt haben. Sie sind demnach als Ergänzung und Bereicherung zu verstehen, jedoch keinesfalls als Ersatz für die Verfahren der ersten und zweiten Welle. (Siehe: Voderholzer, Ulrich: Verhaltenstherapie 2019; 29:77-79)